Schulschluß. Irgendwo, in einer kleinen Stadt.
Die Kinder laufen die Treppen herunter. Nicht lärmend oder tobend, eher still. Diszipliniert. In zwei Reihen. Mit Abstand. Kein Scherzen und Lachen, kein Händchenhalten, Schubsen oder Schabernack. Obwohl man das Lachen ja eh nicht sehen würde. Alle tragen eine Alltagsmaske, bei vielen ist sie modisch auf die Kleidung abgestimmt.
Ein älterer Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite beobachtet das stille Treiben. Er hat Tränen in den Augen. Er erkennt seine Enkelin. Er darf nicht hin, darf sie nicht zu sich rufen. Zu groß ist die Gefahr. Und sie sieht ihn nicht. Hat die Augen zu Boden gerichtet. Warum eigentlich nicht zum Himmel? Er hatte jetzt schon sehr lange keinen Besuch mehr.

Er ist Risikogruppe, muß geschützt werden. Seine Tochter hat es ihm erklärt, auch ein wenig geweint am Telefon. Daß sie jetzt nicht mehr kommen können. Und es geht ja allen so, auch sie würde irgendwann im Alter „Risikogruppe“ landen. Es ginge ja ums „Leben“, das alle schützen wollen. Aber was ist das noch für ein Leben? So dachte er, und ging langsamen Schrittes heim.
Damals, vor ein paar Jahren, als alles anfing, da hat er noch gedacht: „Wir müssen jetzt alle unser Teil beitragen, das geht ja auch wieder vorbei.“ Und die ganzen Spinner und Rechtsradikalen, die haben ihn eigentlich nur noch mehr durcheinander gebracht. „Faschismus“ - das war doch schon lange vorbei.
Das Kind läuft nach Hause. Kein Umweg zum Bach. Zu gefährlich. Mädchen werden vermißt, wenn sie nicht auf direktem Weg nach Hause gehen. Manchmal sogar dann. Mama hat alles genau erklärt. Nur nicht, wer sowas macht.

Endlich daheim. Sie geht direkt ins Bad, Hygiene. Danach zur Küchentür. Mama steht da. Lächelt Sie? Unter der Maske sieht man es nicht. Mama bittet das Kind freundlich an den Eßtisch, es ist alles fertig und sieht lecker aus. Keine Umarmung, kein Drücken. Wie immer. Zu groß ist die Gefahr. Im KiKa hat sie es ja selbst gesehen, daß man das alles nicht mehr darf: Drücken, Küssen, Umarmen, Streicheln, zusammen spielen, Opa besuchen. Weil, sonst stirbt der.
Sie weiß gar nicht mehr, wie er aussieht. Das kleine Holzpuzzle, das er zu Ihrem vierten Geburtstag gemacht hat, das hat sie noch. Es kam mit der Post und sieht wirklich noch aus wie neu. Es steht ja auch im Schrank, hinter Glas. Da könnten nämlich Fieren oder sowas dransein. Egal, jetzt ist sie eh zu alt für sowas.
Die Mutter sitzt in der Küche. Sie hat ein bißchen geweint, aber nur leise. An die Zeit vor der Scheidung hat sie gedacht. Überhaupt an früher, als alles so schön begann. Das Grundstück hatten sie schon. Fehlte nur noch der Kredit, dann hätte es losgehen können. Und dann kam das Scheiß-Virus.

Als der Staat zur Begleichung der unvorstellbaren Last aus der Pandemie die Grundsteuer und auch alle anderen Steuern soweit anhob, daß die Bank einen Rückzieher machte. Die Steuern auf das Auto waren mit das Schlimmste. Es rechnete sich gar nicht mehr, auf Arbeit zu fahren. Der Chef hatte gut reden. Er hatte so viele Bewerbungen. Wenn Sie mit einer Lohnerhöhung kam, hatte er immer den gleichen Spruch parat: „Da draußen stehen Hunderte, die würden gern mit dir tauschen.“
Ungefähr zu dieser Zeit fing ihr Mann an, mit der Sauferei. Und dann war er halt weg. Aber Schluß jetzt, gleich kommt der Gong. Den hat jetzt jeder Haushalt. Er ist nur für die Vergeßlichen, so wird es jeden Tag gesagt. Aber jeder hat einen. Er macht sein Geräusch jeden Tag fünf Minuten vor den Abendnachrichten. Dann hat man noch genügend Zeit, zum Fernsehdialoggerät zu gehen.
Das hat jetzt jeder Haushalt, sogar kostenlos. Wenn man nicht zu den Nachrichten erscheint, registriert es das Gerät. Auch, wenn man während der Nachrichten davor einschläft. Dann gibt es Strafpunkte. Und das ist gar nicht gut. Diese Strafpunkte werden nämlich mit denen der Tochter aus der Schule und ihren eigenen von Arbeit aufaddiert. Dann gibt es nichts mehr von der leckeren Schokokreme im Laden, alles können die aus der ID lesen. Auch der Urlaub im Waldbad, drei Stunden je Tag, eine ganze Woche lang, ist dann futsch.
Die Nachrichten sind vorbei. Fast wäre sie eingeschlafen. Die Tochter schläft sicher schon. Wenn Sie jetzt nachschauen geht, gilt das wieder als „unnötige Kontaktaufnahme“. Lieber nicht.
Sie schläft ein. Auf dem Kannapee. Und träumt von einer schönen Welt.
Oliver Schüller
Papa, Mama, wart ihr zu doof oder zu feige? | Heiko Schöning in München
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Was ich dazu sagen würde kann ich hier nicht schreiben. ????????????????????????